Zur kommenden Saison wechselt der 22-jährige Nico Schlotterbeck zu Vizemeister Borussia Dortmund. Beim SC Freiburg beendete der Innenverteidiger eine grandiose Saison und spielte sich in den Fokus von Top-Klubs. Dabei stand er in jüngeren Jahren kurz vor dem Karriereende und kämpfte sich mit Ehrgeiz zurück. Doch was macht den gebürtigen Waiblinger so stark und wo liegen auch mögliche Schwächen des Nationalspielers? Eine Analyse von Maximilian Dymel.
Kaum eine Rolle ist im modernen Fußball so variabel und schwer auszuführen, wie die des zentralen Verteidigers. Für die meisten Mannschaften sind sie der Ausgangspunkt eines Angriffs und eine stabile Achse in der Defensive. Nico Schlotterbeck verkörpert den Idealtypus eines modernen Innenverteidigers. Defensiv bullig, stark mit dem Ball am Fuß und clever im Aufbauspiel. Gegen den Ball ist der junge Nationalspieler stark, findet seine Paradedisziplin jedoch im Umgang mit der Kugel.
Besonders markant für Schlotterbeck sind seine langen und vertikalen Pässe. In fast jedem Bundesligaspiel schlug er über 35 Meter lange Bälle – bis zu sieben in einer Partie. Wenn der 1,91 Meter große Profi eine Lücke in der gegnerischen Mannschaft sieht, spielt er mit viel Unbekümmertheit nach vorne. Dabei antizipiert er den Plan des Gegners und passt in die Tiefe. 4,52 progressive Pässe pro 90 Minuten konnte er in der abgelaufenen Saison verzeichnen. So legten sie insgesamt 336 Meter in Richtung des gegnerischen Tores zurück. 81,7 % der Zuspiele kamen beim Mitspieler an.
Auch fiel der Defensivspieler vor allem durch seine Dribblings auf. Oft suchte er den Weg nach vorne und brachte Unruhe in das gegnerische Spiel. Dabei überblickt und liest der 22-Jährige das Geschehen um ihn herum und leitet anschließend Offensivaktionen ein. Mit schnellen, präzisen Pässen und Aufmerksamkeit blieb er zudem für seine Kollegen offensiv anspielbar und konnte so auch Torchancen hervorbringen. „Total Football Analysis“ betitelt ihn als eine kreative Waffe.
Zahlen gefällig? In der abgelaufenen Saison verzeichnete der Neu-Dortmunder laut dem Statistik-Portal „FBref“ 1,68 Schuss-kreierende Aktionen pro 90 Minuten – ein Top-Wert. Ebenso führten 0,1 seiner Dribblings pro 90 Minuten zu einem Abschluss – was sich nach wenig anhört, ist eine herausragende Statistik für einen Verteidiger. Zum Vergleich: Im Schnitt lag dieser Wert auf seiner Position in der Saison 2021/22 bei 0,01.
Trotz nur eines Assists in seinen Statistiken, hatte Schlotterbeck großen Anteil am Offensivspiel des SC Freiburg. Er konnte meist als Vorbereiter eines Assists glänzen, der anschließend zu einem Treffer führte. Dennoch kann sich sein Wert von 0,16 Torbeteiligungen pro 90 Minuten sehen lassen. Eine weitere interessante Statistik ist seine „npxG+xA“-Quote von 0,17, die sich aus seinem „expected goals“-Wert (ohne Elfmeter) und seinen vorbereiteten „expected goals“ zusammensetzt.
Falls er nicht gerade einen Angriff vorbereitet, schließt der viermalige Nationalspieler gerne auch selbst ab. Es scheut ihn nicht, sich im gegnerischen Sechzehner aufzuhalten. Das belegt „FBref“ mit seiner Ballberührungs-Statistik im Strafraum des Gegners: ganze 2,1 Kontakte pro 90 Minuten – mehr als 99 Prozent der Innenverteidiger. Seinen „expected goals“-Wert (xG) von 3,9 konnte er ebenfalls übertreffen: in 32 Bundesliga-Partien gelangen ihm vier Tore. Drei von ihnen nach Standards, zwei zum Sieg seiner Mannschaft – der sehenswerte Volleytreffer gegen den VfL Wolfsburg darf ebenfalls nicht in Vergessenheit geraten.
Neben den offensiven Aspekten spiegelt Schlotterbeck auch defensiv einen guten und modernen Innenverteidiger wider. Mit gerade einmal 22 Jahren ist er defensiv stabil und bringt ein gutes Timing in Zweikämpfen mit. Ebenso strahlt er Ruhe aus und spielt in Drucksituation wichtige und präzise Pässe – rund 9,8 pro 90 Minuten, besser als 90 % der Bundesliga-Innenverteidiger. Seine defensiven Fähigkeiten lassen sich am besten durch Zahlen belegen: 2,1 geblockte Schüsse-, 2,52 Zweikämpfe-, davon 1,71 gewonnen, oder 40 % erfolgreiches Pressing pro 90 Minuten – in vielen Werten reiht sich Schlotterbeck unter den Allerbesten ein.
Vor allem seine Aggressivität zeichnet den 22-Jährigen aus, wie „Breaking The Lines“ hervorhebt. Dabei bleibt er jedoch ziemlich fair und bekam in der Saison 2021/22 nur 0,16 Gelbe Karten pro 90 Minuten. Seine fünfte Gelbe Karte der Spielzeit holte er sich im letzten Saisonspiel ab und konnte somit eine Sperre abwenden. Mit seinem mutigen Offensivspiel zog Schlotterbeck mehr Fouls, als er selbst verursachte – ungewöhnlich für seine Position. Beim SC Freiburg passte der Nationalspieler perfekt ins System und ließ gegnerischen Stürmern weder Raum noch Zeit und Chancen. Defensiv schirmt der gebürtige Waiblinger den Bereich hinter ihm ab, was zwar riskant ist, jedoch Früchte getragen hat.
Mit seiner Größe ist er zudem stark, quasi fast unschlagbar in Luftduellen. 74,1 % seiner Kopfballduelle entschied der BVB-Neuzugang für sich. Außerdem zeigt er sich im Stellungsspiel solide und abgeklärt. „Nico verfügt über riesiges Potenzial“, sagte BVB-Sportdirektor Kehl bei der Bekanntgabe des Transfers nach Dortmund. Für sein Alter bringt Schlotterbeck schon sehr gute Anlagen mit und zählte bereits in der vergangenen Saison zu Europas besten Innenverteidigern.
Bei seinem neuen Klub im Ruhrgebiet und auch in der Nationalmannschaft ist Willensstärke gefragt und notwendig. In eigenen Worten beschrieb Schlotterbeck seine Mentalität gegenüber der „Sport Bild“ folgend: „Auf dem Feld vorangehen, seine Leistung bringen. Ich bin keiner, der nach einem schlechten Spiel sagt: „Wir waren alle nicht gut.“ Nein, dann spreche ich über MEINE Leistung.“ Seit einem Interview von BVB-Kapitän Marco Reus zählt der Begriff der Mentalität sicherlich zu den liebsten Wörtern der Borussen.
Neben seinen Anführerqualitäten zeichnet Schlotterbeck auch sein Ehrgeiz aus. Seinen Weg in die Bundesliga musste sich der DFB-Pokalfinalist hart erarbeiten. Bereits früh steckte er einen großen Rückschlag ein, als die Stuttgarter Kickers den Verteidiger in der U15 aussortierten. Ohne einen Plan B dauerte es lange, bis er beim VfR Ahlen seine nächste Station gefunden hatte. Wie der Nationalspieler bei „Sky Sport“ verriet, nahm er den Rauswurf bei den Kickers damals als Scheitern wahr und war niedergeknickt von seinen Leistungen. Obwohl er auch Schuld bei den Verantwortlichen in Stuttgart sieht, dachte der Ex-Union-Profi sogar an ein Karriereende.
Aufhören kam für den jungen Defensivspieler allerdings nicht infrage. Er stellte früh seine Ernährung um, ordnete vieles dem Fußball unter und spielte sich mit einer guten Saison in die Jugend des Karlsruher SC – kurze Zeit später gehörte er der U19 des SC Freiburg an. Der Rest, wenn auch etwas holprig, ist Geschichte. Eine Geschichte, in jener er aus seinen Fehlern gelernt hat und wortwörtlich am Ball geblieben ist. Ausrutscher unterlaufen ihm dabei kaum mehr.
In der Bundesliga ließ Schlotterbeck laut „FBref“ nur 0,06 Fehler pro 90 Minuten zu. Kein sehr hoher Wert, dennoch sind seine Unaufmerksamkeiten oft kostspielig. Erst vor einer Woche hagelte es nach seinen Auftritten für die DFB-Auswahl Kritik. Zweimal in vier Einsätzen verursachte er bei der Nationalmannschaft einen Elfmeter. Während Keeper Trapp das erste Malheur beim Debüt ausbügeln konnte, führte der zweite Strafstoß gegen England zum 1:1-Endstand.
Bundestrainer Flick sah den ersten Ausrutscher gelassen: „Daran arbeiten wir, daran arbeitet auch Christian Streich in Freiburg.“ Diese Aussage fasst die Zukunft von Schlotterbeck wohl passend zusammen. Obwohl er mehrere Angebote von europäischen Top-Klubs erhalten hatte, entschied sich Schlotterbeck für Borussia Dortmund. Bei den Borussen unterschrieb er einen langfristigen Vertrag bis 2027 und möchte mit den Schwarz-Gelben Erfolge feiern. „Ich hatte super Gespräche, sie haben mir den Eindruck vermittelt, dass ich hier den nächsten Schritt gehen kann. Ich habe sehr viel über den Klub gehört, über die Fans, das Stadion. Deshalb habe ich die Entscheidung pro Borussia getroffen und habe da jetzt richtig Bock drauf“, erklärte der 22-Jährige seinen Transfer.
Dabei verzichtete er auf großes Geld und möchte sich stattdessen auf seine Entwicklung fokussieren. Die mentale Einstellung wird ihm dabei zugutekommen: „Grundsätzlich bin ich ein Typ mit sehr viel Selbstvertrauen.“ Jedoch auch einer, der im ärgsten Falle zurücksteckt und seine Grenzen kennt. Im Pokalfinale verzichtete er als einer der ersten fünf Schüssen im Elfmeterschiessen: „ich habe nicht so die Eier gehabt.“ Als Spieler des Spiels verließ er zum letzten Mal im Freiburg-Dress den Rasen. Trost für die Niederlage war es zwar nicht, jedoch symbolisch für seinen Ehrgeiz und sein Talent. „Das war mein letztes Spiel für den SC und ich muss sagen, dass ich meine Seele rausgespielt habe.“
Der junge Verteidiger bringt sehr großes Potenzial mit und kann sich noch verbessern, sowie an Schwächen arbeiten. Zu ihnen gehört auch seine riskante Spielweise. Eine Formation muss bestenfalls auf seinen Spielstil zugeschnitten sein. In einer Dreierkette fühlt sich der 22-Jährige am wohlsten, baut jedoch auf die Unterstützung seiner Mitspieler. Sobald er nach vorne durchstartet, müssen seine Mannschaftskollegen wachsam sein und im Notfall klären.
Außerdem mangelt es bei ihm teilweise an Konstanz und ihm passieren kleine Ausrutscher. Mit denen muss ein Trainer umgehen können, um ihn aufzubauen. Das schätzte der Verteidiger an SC-Trainer Christian Streich, der ihm sein Vertrauen schenkte. So sagte auch Bundestrainer Flick über sein Debüt für die DFB-Elf: „[Er] war aktiv, agierte mit Vertrauen im Ballbesitz – genau das wollten wir Trainer von ihm sehen.“
Trotz all der Zahlen, Statistiken und Meinungen – Fakt ist: Von Nico Schlotterbeck ist trotz seiner erst 22 Jahre noch einiges zu erwarten. Mit Sicherheit wird der Gewinn der U21-Europameisterschaft nicht sein einziger großer Titel bleiben.
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