Im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2022 steht der Iran eher aus politischen Gründen im Fokus der Weltöffentlichkeit. In Katar hat die iranische Nationalmannschaft allerdings die Chance, mit ihrer Leistung auf dem Platz für positive Schlagzeilen zu sorgen. Zum insgesamt sechsten Mal ist das Land vom persischen Golf für eine WM qualifiziert. Der Sprung ins Achtelfinale gelang bisher noch nicht. Wer den Iran in Gruppe B mit England, den USA und Wales deshalb aber schon im Vorfeld abschreibt, der macht möglicherweise einen folgenschweren Fehler.
In der Finalrunde der Asien-Qualifikation hatte der 20. der FIFA-Weltrangliste überhaupt keine Mühe. Mit 25 von 30 möglichen Punkten und einer Tordifferenz von 15:4 löste der Iran souverän und mit deutlichem Vorsprung sein Ticket für Katar. Die Aussagekraft dieser Bilanz ist aber eher begrenzt, da Südkorea der einzig wirklich ernstzunehmende Gegner in der Iran-Gruppe war. Japan, Australien und Saudi-Arabien befanden sich allesamt in Qualifikationsgruppe 2.
Dass die Iraner aber auch gegen europäische Top-Nationen mithalten können, haben sie bei der WM 2018 in Russland eindrucksvoll unter Beweis gestellt. In einer Gruppe mit Spanien, Portugal und Marokko verpasste das „Team Melli“ denkbar knapp den Einzug ins Achtelfinale. Ein Sieg gegen Portugal im letzten Gruppenspiel hätte den Iranern gar den Gruppensieg beschert, doch das 1:1 reichte am Ende nur zu Rang drei.
Der technisch starke Angreifer in Diensten des FC Porto war bei der WM vor vier Jahren schon dabei. Im besten Fußballer-Alter von 30 Jahren bekommt er nun die Gelegenheit, das damals Versäumte nachzuholen. Wenn er seine Form auf Vereinsebene bei der Nationalmannschaft konservieren kann, könnte Mehdi Taremi zu einem absoluten Schlüsselspieler werden. Bei Porto kommt er in der laufenden Saison auf 20 Torbeteiligungen (13 Tore, sieben Assists) in 18 Partien. Mitte Oktober traf Taremi in der Champions League gegen Bayer Leverkusen gleich doppelt.
Für Leverkusen spielt ironischerweise Taremis kongenialer Sturmkollege in der iranischen Mannschaft: Die Rede ist von Sardar Azmoun. Der 27-Jährige fällt seit einigen Wochen wegen eines Muskelfaserrisses aus, wird aber gerade rechtzeitig zur WM fit. Bei den Rheinländern hat er sein Glück bisher noch nicht so recht gefunden. In 22 Pflichtspielen für die Werkself erzielte Azmoun erst ein Tor. Seine Trefferquote für den Iran ist dafür umso beeindruckender. 41 Tore in 65 Länderspielen stehen dort zu Buche.
Der Iran traf noch nie auf Auftaktgegner England. Das WM-Gruppenspiel in Katar wird für beide Mannschaften eine Premiere.
Gegen Wales gab es in der Geschichte nur ein Spiel. 44 Jahre ist es her, dass Wales mit 1:0 gewann.
Die Perser spielten bereits einmal bei einer WM-Gruppenphase gegen das US-Team: 1998 schlug man die Amerikaner mit 2:1. Ein zweites Duell im Januar 2000 endete mit einem 1:1-Unentschieden.
Abgesehen von den beiden international erfahrenen Angreifern mangelt es im Kader der Iraner an großen Namen. Ein Großteil der Spieler ist in der heimischen Persian Gulf Pro League oder in der Qatar Stars League aktiv. Was für das Nationalteam von Katar gilt, kann am Ende aber ebenso für das iranische Team gelten: Viele Spieler kennen sich bereits aus der Liga oder spielen sogar in derselben Mannschaft. Eine derartige Blockbildung kann gerade auf Nationalmannschaftsebene ein entscheidender Trumpf sein, da das Team von vornherein gut aufeinander eingestellt ist.
Alireza Jahanbakhsh (Feyenoord Rotterdam), Ali Gholizadeh (RSC Charleroi) und Saman Ghoddos (FC Brentford) spielen in Europa bei mehr oder weniger namhaften Klubs. Der Kader verfügt also durchaus über eine gewisse Qualität, auch wenn die meisten Namen wohl nur absoluten Kennern ein Begriff sein dürften.
Vor knapp zwei Monaten wechselten die Iraner noch einmal ihren Trainer. Der Kroate Dragan Skocic musste gehen, für ihn übernahm der 69-jährige Carlos Queiroz, der die Mannschaft zuvor schon zwischen 2011 und 2019 fast acht Jahre lang betreut hatte. Der Portugiese verfügt über einen großen Erfahrungsschatz. Queiroz war bereits Trainer von Real Madrid, Co-Trainer bei Manchester United unter Sir Alex Ferguson sowie Auswahlcoach der Nationalmannschaften von Portugal, Kolumbien und zuletzt Ägypten.
Im ersten Spiel nach seiner Amtsübernahme siegte der Iran gegen Uruguay mit 1:0. Wenige Tage später gab es ein 1:1-Unentschieden gegen den Senegal. Durchaus beachtliche Ergebnisse gegen Kontrahenten, die mindestens auf Augenhöhe sind. Es ist davon auszugehen, dass Queiroz weiter am 4-1-4-1-System festhält, das sich in den vergangenen zwölf Monaten bewährt hat. Wenn Taremi und Azmoun beide zur Verfügung stehen, wäre auch eine Variante mit zwei Stürmern denkbar. Wahrscheinlicher ist aber, dass Taremi auf den linken Flügel ausweicht.
Der Iran ist definitiv eine Wundertüte im 32 Teams starken WM-Teilnehmerfeld. Nimmt man die Ergebnisse in der Vorbereitung zum Maßstab, so kann man definitiv erwarten, dass der dreifache Asienmeister weder gegen Wales und die USA noch gegen England chancenlos sein wird. Wenn das Spielglück, das vor vier Jahren bei der WM in Russland noch gefehlt hat, diesmal auf Seiten der Iraner ist, könnte die Überraschung möglich sein.
Prognose: Auf Augenhöhe mit USA und Wales, Achtelfinale möglich
Autoren: Julian Hickel, David Seddig, Maximilian Dymel
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